
Die Stadt erwachte langsam aus ihrem Schlaf. Die feuchte Kühle des Dnipro hing in der Morgenluft und die grauen Schatten der alten Gebäude wurden länger, während die ersten Straßenbahnwagen über die Schienen ratterten. Andrei war an der Haltestelle vor der Universität angekommen, mit einer Tasche in der Hand und beobachtete die gemächliche Menge, die sich strömte. Es schien ein gewöhnlicher Tag zu sein, aber genau in diesem Moment sah er einen Hund, der für immer in seiner Erinnerung bleiben würde.
Der Hund saß am Rand des Bahnsteigs, etwas abseits von der Menschenmenge. Sein Fell war orange-gelb, und obwohl er eine dichte, doch schmutzige Schicht hatte, strahlte sein Blick etwas zu Menschliches aus. Er schaute nicht auf die Passanten oder die vorbeifahrenden Autos, sondern in die Ferne, dorthin, wo der Lärm der Straßenbahnen und der Kreuzungen zu hören war.
Andrei hielt inne.
„Was siehst du?“ fragte eine ältere Frau mit einem Markkorb ihn. „Das ist ein einheimischer Hund. Er lebt schon seit einem Jahr hier.“
„Wartend hier an der Haltestelle?“ fragte er erstaunt.
„Ja. Er wartet. Man sagt, dass man ihn zuletzt hier gesehen hat.“ Die Frau zuckte mit den Schultern. „Wartend auf seinen Besitzer.“
Andrei blinzelte und sah die Hund zurück. Der Hund drehte den Kopf, als ob er verstanden hätte, dass es um ihn ging. In seinem Blick lag ein schwer in Worte zu fassendes Gefühl: eine Mischung aus Trauer und Hoffnung.
Er machte einen Schritt näher, doch der Hund bewegte sich nicht. Er blinzelte nur und wandte sich wieder den Gleisen zu.
„Wie heißt er? Weißt du das?“ fragte Andrei die Frau.
„Niemand weiß so recht“, antwortete sie. „Die einen nennen ihn Zuchka, die anderen Rex. Vielleicht hat er auch einen ganz anderen Namen. Aber er reagiert nur auf denjenigen, auf den er wartet.“
Ein Straßenbahnfahrzeug näherte sich mit einem lauten Geräusch, die Menschen begannen sich zu bewegen, Geschwätz erfüllte die Luft. Der Hund erhob sich und stellte sich an den Rand, als würde er jede Tür und jedes Gesicht prüfen. Doch der Besitzer war erneut nicht da.
Andrei stieg in die Straßenbahn ein, doch anstatt auf sein Telefon zu starren, schaute er durch das Fenster. Der Hund blieb an seinem Platz. Er saß da wie eine Statue, ohne jemand oder etwas, was ihn ablöste.
Einige Tage später fand Andrei sich wieder an derselben Haltestelle. Der Hund war immer noch da.
„Wartest du immer noch?“ fragte er leise, während er sich obendrauf setzte.
Der Hund drehte langsam den Kopf. Seine Augen waren so tief, dass man sich darin verlieren wollte.
„Na hallo,“ fuhr Andrei fort. „Ich weiß nicht, wen du wartest, aber vielleicht wird er nicht mehr kommen.“
Der Hund gab ein leises Geräusch von sich, das einem Seufzer glich, und wandte sich wieder den Gleisen zu.
In der Nähe stand ein Jugendlicher mit Kopfhörern. Er grinste:
„Alter, der so steht er schon immer. Ich sehe ihn jeden Tag, wenn ich zur Uni fahre. Das ist ein Statue-Hund.“
„Findest du das witzig?“ sagte Andrei streng. „Er hat ein Herz.“
„Ich… wollte nur sagen,“ murmelte der Junge verlegen und wandte seinen Kopf ab.
Eine Woche verging. Andrei kam spät am Abend zurück. An der Straßenbahnhaltestelle saß wieder derselbe Hund. Der Wind ließ gelbe Blätter über den Asphalt tanzen, und der Hund wirkte noch einsamer.
Andrei hielt an.
„Hey,“ rief er, „isst du wenigstens etwas?“
In seinen Händen hielt er ein Brötchen. Er streckte es dem Hund entgegen. Der Hund kam vorsichtig näher, nahm das Stück, doch seine Augen blieben fest auf den Gleisen gerichtet.
„Wartest du immer noch auf ihn?“ Andrei lächelte sanft. „Du bist treu bis zum Ende.“
In diesem Moment kam ein Mann in Uniform auf ihn zu.
„Hört mal,“ sagte er, „dieser Hund ist schon lange hier. Wir alle kennen ihn. Manchmal füttern wir ihn. Aber den Besitzer… niemand hat ihn je gesehen. Man sagt, der Mensch sei gestorben.“
„Und weiß der Hund es nicht?“ fragte Andrei.
„Wie will man ihm das erklären?“ zuckte der Konduktuer mit den Schultern. „Für ihn ist die Welt einfach: Er ist in die Straßenbahn gestiegen und nicht zurückgekommen. Also wartet er.“
Die Nacht war neblig. Andrei konnte lange nicht schlafen. Vor seinen Augen tauchten diese Augen auf, voll stummen Wartens.
Nach einigen Tagen kam er wieder vorbei. Doch der Hund war nicht mehr da. Die Haltestelle schien leer, und selbst die Gleise klingelten anders.
Andrei hielt eine Frau an, die er zuvor gesehen hatte.
„Wo ist der Hund?“
Die Frau seufzte.
„Heute Morgen wurde er von einem Auto angefahren. Er lag da, an der Kreuzung. Die Leute halfen, ihn hinter dem Park zu bestatten.“
Andrei schwieg. Eine Schwere breitete sich in seiner Brust aus, als hätte er jemanden nahestehenden verloren. Er kannte seinen Namen nicht, wusste nichts über seine Vergangenheit, aber eines wusste er gewiss: das war ein Hund, der lieben und warten konnte, wie es nicht viele Menschen können.
Ein wenig stand er noch bei den Gleisen und sah in die Leere. Doch erst dann verstand er, dass die Begegnung mit diesem Hund die erste und die letzte gewesen war, aber gerade sie hatte ihn an das Wichtigste erinnert: Loyalität kennt weder Zeit noch Tod.
Wir gewöhnen uns daran zu denken, dass Hunde bei uns leben, nur wegen des Essens und eines Daches über dem Kopf. Doch manchmal lehren sie uns etwas, dem wir selbst selten folgen: bis zum Ende zu warten, bedingungslos zu lieben und treu zu bleiben, selbst wenn die Hoffnung nicht mehr besteht.






